"Folklore aus Niemandsland"
In Beethoven's großer Fuge für Streichquartett Opus 133 gibt es einen Augenblick, in dem ein Endpunkt der Kammermusik überhaupt erreicht zu sein scheint. Gute zehn Partiturseiten lang haben vier Leute ein Thema nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Nun geht nichts mehr. Der Rahmen, den einst die alte Kunst der Fuge setzte, ist längst gesprengt .. In Wahrheit geht es natürlich weiter, wenn auch anders, nämlich meno mosso e moderato. Der Kreis der späten Streichquartette beginnt sich zu schließen.
Beethoven hat in diesem Werk niedergeschrieben, was aller Kunst der Fuge innewohnt: Der Zwang. Ist die Imitation in den meisten Fällen eben nur Nachahmung, bedeutet sie gewissermaßen das Übernehmen von Verhaltensweisen, so fordert die Fuge den unbedingten Gehorsam ... was nach diesem schliesslichen bentenuto, dem Moment des Verschnaufens, eigentlich bleibt, ist die Hoffnung auf eine Musik, die sich von allen Zwängen freimacht. Die Utopie dieser Musik hat Beethoven im folgenden, vor allem im Kopfsatz des cis moll Quartetts festzuhalten versucht. Er formulierte die Hoffnung; erfüllen konnte er sie im Rahmen der bestehenden Zwänge nicht. Denn was er erfuhr, waren die grundsätzlichen Grenzen einer alphabetischen Kultur, wie Marshall McLuhan es deuten würde, einer Kultur, die gewohnt ist, Verhältnisse festzuschreiben.
Gegen diese Kultur erhebt sich inzwischen deutlicher Widerstand. Das ethnozentrische Vorurteil der alphabetischen Gesellschaften gegenüber den schriftlosen hat sich als schwer haltbar erwiesen. Und der Anthropologe Lévy-Strauss legte dar, wie das Erlernen der Schrift gleichzeitig das Ausüben von Gewalt bedeutet, wie die unschuldige Kultur dadurch zu einer Kultur der Herrschaft und der Ausbeutung werde. Nun hat gerade die entwickelte Kammermusik Europas die Herrschaft des einen über den anderen aufzuheben versucht, wenigstens modellhaft aufzuheben versucht, als sie begann, vier vernünftige Leute sich miteinander unterhalten zu lassen. Aber sie blieb eben grundsätzlich Musik einer alphabetischen Gesellschaft, blieb notierte Musik, festgeschrieben in abstrakten Zeichen, die dem Klang so fern stehen wie der Buchstabe der Sprache.
Zu versuchen wäre also die schriftlose Musik. Sie böte vielleicht Gelegenheit, nicht nur vernünftig miteinander Konversation zu treiben, sondern von dem zu reden, was einen angeht, was einen betrifft. Was eben nicht zeitlos ist, sondern im Gegenteil nur im Augenblick gilt.
Davon reden seit bald zehn Jahren Paul und Limpe Fuchs. Das heisst: sie reden nicht davon, dass man davon reden müsse. Sondern sie tun es. Aber ihre Art der schriftlosen Musik hat einen Grad der Gültigkeit und Glaubwürdigkeit erreicht, der es schwer macht, an ihnen vorbeizuhören. Nicht einmal die große unordentliche und unaufgeräumte Schublade "Improvisation" ist so ohne weiteres geeignet, die Füchse und "Anima", wie sie sich zunächst vor allem im Verein mit Friedrich Gulda nannten, wegzustecken und zu vergessen. Natürlich improvisieren sie. Das hat sich herumgesprochen. Aber der Begriff der Improvisation ist zu schillernd., als dass man ihn unbesehen anwenden könnte.
Denn nicht selten bedeutet Improvisation, dass man sich der bestehenden Musik weitgehend anpasst, dass man in ihrem Rahmen, nach ihren frei angewandten Regeln Musik macht....
Die Girlanden der Klarinetten sind bis weit in den modern jazz zu einem erheblichen Teil spieltechnisch bedingt, sind regelrechte Kunstgriffe, und die Geläufigkeit des Pianisten wird entscheidend durch den Bau des Instruments wie durch die eingefahrenen typischen Jazzakkorde bestimmt. Gerade das konnte man übrigens in den Anfangszeiten von "anima" erfahren, als sozusagen der Jazzpianist Friedrich Gulda zu Paul und Limpe Fuchs stieß. Die vielfach geübten Handgriffe und Redewendungen waren unüberhörbar und ließen den Wunsch aufkommen Gulda möchte doch ein anderes Instrument erlernen oder besser noch: sich eines bauen. Wie sehr improvisierte Musik oft eben doch Musik mit festgeschriebenen Wendungen ist, lässt sich sogar bei einem bestimmten Teil der Avantgarde feststellen, bei jenen Versuchen etwa, die in den späten 60er Jahren unternommen wurden. Kontarsky, Fritsch, Globokar spielten, waren sie erst einmal in die Freiheit entlassen, vor allem das, was sie anhand von Boulez und Stockhausen, Berio und Cage gelernt hatten.
Zu dieser Zeit hatten Paul und Limpe Fuchs bereits begonnen, sich die Instrumente
selbst zu bauen. Es fing gewissermaßen beiläufig an. Paul Fuchs hatte
ein Horn entworfen, das aber eigentlich als Skulptur gedacht war. Schließlich
war er gelernter Bildhauer, hatte bereits an einer Reihe von Projekten und Aktionen
teilgenommen.
Das Horn hatte entfernte Ähnlichkeit mit der indischen Ranaschringa,war
freilich noch kühner geschwungen und diente der Klangmeditation. Paul Fuchs
blies auf ihm langgezogene Töne zu den Trommeletüden von Limpe, die
gerade Musik studierte. Nach und nach verließ Limpe die vorgeschriebenen
Übungen. Paul Fuchs sieht es im Rückblick so: Wir spielten ins Leere...
Nach eigenem Zeugnis brauchten sie etwa vier oder fünf Jahre, um mit dieser
Sprache umgehen zu können. In dieser Zeit wurden weiter Instrumente gebaut:
Fuchsharfe, Fuchsbass, Schilfzink, eine ganze Sammlung von Schlaginstrumenten...
die zufälligen Folgen der Bearbeitung der Materialien, der Mangel an Glätte,
der überall an diesem Holz und Metall ins Auge fällt, und die nur
unzureichende Absicherung der Intonation bei einem Saiteninstrument mit verschiebbarem
Steg, machten alle Geläufigkeit im herkömmlichen Sinn von vornherein
zuschanden, obwohl die virtuose Beherrschung auch dieses Instrumentariums nicht
ausblieb und zum Aspektreichtum der Musik deutlich beiträgt....
Immerhin haben Paul und Limpe Fuchs im Lauf der Zeit eine Menge Leute gefunden,
die ihnen zuhören wollen. Und diese Leute gehören jeweils zur Musik
dazu. Denn das Gespräch miteinander hatte sich erweitert. Die Musik von
"anima" versucht, die Stimmung der Leute, ihre Erwartung und Bereitschaft
je mit aufzunehmen, drahtlose Verbindung zu schaffen, die über das übliche
Verhältnis zwischen lauernder Menge und dressiertem Affen hinausgeht, genauer
gesagt: dieses ausschließt. "anima" meint im Sinn von C.G.Jung
das, was unmittelbar unter dem Bewusstsein sich freilegen lässt. Jedenfalls
war es einmal so gemeint - inzwischen haben Paul und Limpe Fuchs allzu engen
psychologischen Deutungen den Rücken gekehrt. Immerhin lässt sich
"anima" verstehen als die tiefreichende Möglichkeit zum Miteinander,
und so wird Anima Sound immer wieder Wirklichkeit. Eine ganze Reihe bedeutender
Jazzer wie Albert Mangelsdorff und Barre Phillips haben das inzwischen zu erfahren
versucht und wohl auch erfahren, wenn auch in unterschiedlichem Maß. Das
Gespräch mit ihnen bewahrt "anima" nicht zuletzt vor der Gefahr
des Sektierertums, verdeutlicht zugleich, dass diese Metamusik nicht auf zwei
oder drei Verschworene beschränkt ist.
Zunächst sah es freilich beinahe danach aus. Paul und Limpe Fuchs veröffentlichten eine Schallplatte "Stürmischer Himmel", Gulda holte sie nach Ossiach, spielte mit ihnen in einer aufsehenerregenden Session, und dann tauchten beide erst einmal weg, verschwanden von der Festivalbühne und zuckelten mit Traktor, Wohnwagen, zwei Kindern und einem Schaf durch Europa. Die Erfahrungen, die sie sammelten, wenn sie irgendwo auf einem Marktplatz ihre Bühne aufschlugen und für die Leute spielten, die gerade vorbeikamen, sind wohl mit nichts aufzuwiegen, was der Konzert- Festival- und Popschuppenbetrieb sonst so bietet,,,, Natürlich merkt man, dass Limpe einmal in einer Formation Beat geschlagen hat. Natürlich glaubt man, Afrikanisches und Asiatisches heraushören zu können. Aber es ist wirklich Folkklore aus dem Niemandsland, Musik für alle, Musik, wie sie überall direkt aus der Erde kommen könnte.
Das entzieht sich im Grunde der Beschreibung, es sei denn, man ginge das Risiko ein, gerade das zu vernichten, wovon man sprechen möchte. Nichts wäre beispielsweise schlimmer, als wollte man versuchen, diese Musik schriftlich festzunageln, an Notenköpfe zu hängen. Anima Sound ist prinzipiell unliterarisch; er ist erlebbar, nicht lesbar...
Doch irgendwie lässt sich natürlich über die Sache reden, obwohl
Paul Fuchs zum Beispiel das eigentlich aufgegeben hat. Er möchte musizieren,
bildhauern, Brot backen und was das Leben sonst noch ausmacht. Ebenso bezeichnend
ist, dass Limpe nicht mehr, wie in den Anfängen, Texte von Kafka oder Beckett
singt, sondern nur noch Vokalisen, von denen manche englisch klingen, manche
auch oberbayrisch und wie aus der Gegend des Alten Pfarrhofs, den sie in Peterskirchen
bewohnen ....