ECHTZEITHALLE e.V. MÜNCHEN
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291. Montagsgespräch

Modernes Quadrivium

Streitgespräch mit Musikbeiträgen - Jörg Schäffer, Dieter Trüstedt und Hans Wolf

23. Januar 2012 20 Uhr / Eintritt frei
Carl Orff Auditorium München
Luisenstr. 37a, U-Bahn Königsplatz

Dokumentation

Erstes Montagsgespräch im Rahmen des Projektes Natur - Wissenschaft - MUSIK - Wahrnehmung - Wirklichkeit in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater München, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München, dem Bezirk Oberbayern, dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst - und dem Musiklabor / Echtzeithalle e.V.

Jörg Schäffer
Kann man ohne Körper denken? Gibt es Sinn ohne Sinnlichkeit?
In den letzten Jahrzehnten beginnen sich die Methoden, Inhalte und Ergebnisse der (Natur-)Wissenschaften mehr und mehr dem direkten sinnlichen Zugang zu entziehen. An dessen Stelle treten Codes, Konzepte, Formeln, Modelle, Metaphern, die zudem auch noch in vielen Fällen medial (also indirekt) vermittelt werden.
Damit entfällt die Differenzierung und Schulung des sekundären Informationsfilters im Gehirn. Erst dieser jedoch macht die eingehenden Informationen der primären Rezeptoren (Sinneszellen) interpretierbar und lässt damit die Welt zur Wirklichkeit werden.
Ironischerweise werden wir momentan durch das errungene Mehr an Wissen nicht klüger, da uns das Gefühl für Qualität verlorenzugehen droht.
Daher mein Appell: Geben wir der Materie ihre Intelligenz zurück - das moderne Quadrivium kann dabei helfen.

Dieter Trüstedt
Das Abendland hat in der Musik einen Weg eingeschlagen, der heute dominiert - aber nicht der einzige Weg sein muss. Ich werde also nach 500 n.Chr. (klassisches Quadrivium / Boethius) zurückkehren, um einen anderen / meinen Weg zu suchen:.
Vor 1500 Jahren war Musik noch im Einklang mit den "Naturwissenschaften". Diesen Einklang will ich wieder aufgreifen und als Wegbegleiter einsetzen. Heute haben wir eine unermessliche Fülle an Wissen über die Natur, über die Mathematik, den Kosmos, die elementaren Teilchen unserer Welt - und wir haben fantastische Instrumente und Verfahren, die dieses Wissen darstellen, bearbeiten und auch in Musik transformieren/übersetzen können. Diese Musik suche ich - und will sie auch hören. (In den 50er und 60er Jahren waren Xenakis, Varèse u.a.  schon auf diesem Weg, haben aber ihre Reise nicht vollendet, weil vor allem kommerzielle und auch instrumentelle Gründe dagegen sprachen.)
Ich werde in diesem Montagsgespräch einfachste Zeitlinien vorspielen, sie mit Klangereignissen besetzen, diese Ereignisse variieren - und zu Gehör bringen. Ich werde Formeln, Reihungen, geometrische und natürliche Klanggestalten einfügen und formen. Die Koordinaten werden nicht die üblichen sein, sondern Koordinaten, die ohne Kompromisse den heute bekannten Gesetzen der Natur entsprechen - so wie ich es gelernt habe.

Hans Wolf
Wie kann ein komponierender Musiker der Gegenwart die Wurzeln des Musizierens wieder freilegen? Wie kann er quasi zum Zustand einer Tabula Rasa finden, um Musik neu zu denken und unter neuen Prämissen (er-)finden? Wie kann er den Ballast der Konvention und Geschichte abstreifen, ohne ganz auf herkömmliche Instrumente zu verzichten?
Eine für mich als Naturwissenschaftler und Musiker faszinierende sowie funktionierende Möglichkeit hierzu besteht in der Anregung durch das klassische Quadrivium: Die Musik wurde in der damaligen Zeit als ein mathematisches Fach angesehen, genau wie z.B. die Geometrie. Wenn wir heute als ausübende Musiker und Komponisten versuchen, zu diesem ursprünglichen Ansatz zurückzufinden, tun sich für uns sehr reizvolle Möglichkeiten auf, besonders wenn Bezug zur Mathematik auf die Naturwissenschaft als Ganzes erweitert wird.  
Die Besinnung auf die Natur und ihre Gesetze, Rhythmen etc. kann zu einer neuen, mit ihr implizit verbundenen Ursprünglichkeit und Frische der Musik und des Musizierens - auch auf herkömmlichen Instrumenten – führen, wobei Klangereignisse mitunter als Spiegel der Natur fungieren.
Eine Weiterentwicklung von Spieltechniken und Klangmöglichkeiten drängt sich mir geradezu auf. Manchmal geschieht das in der bewussten oder intuitiven Umsetzung der vom Mitspieler angebotenen Klangereignisse bzw. im geplanten oder unmittelbaren Musizieren. Es entstehen Ideen für Klang- und Geräuscherzeugung, die konkret durch das Hören ausgelöst werden.
Am Beispiel des Klaviers:
- Erzeugen einer „Klangsuppe“ auf den Tasten durch pedalisierte Glissandowirbel etwa, die keinerlei diskrete Tonhöhen mehr erkennen lassen.
- Die Verwendung des Klavierinnenraums mit all seinen Möglichkeiten.
- Rhythmen, die bei ihrer Erzeugung quasi als stochastisch empfunden sind.
- Automatische Ausblendung eines konventionellen Takt-, Melodie- oder Harmonieschemas,
- Mit den Klangereignissen des Mitspielers mitschwingen, diese spiegeln, kontrapunktieren, als Hintergrund und Folie verwenden, als Dialogpartner.
- Traditionelle Harmonik, Melodiebildung und Phrasierung  kann gelegentlich ironisch verwendet werden, wie ein Fremdkörper bzw. als maximaler Kontrast zu dem sonstigen Klanggeschehen.
- Vermenschlichung maschinenhafter Klangmuster durch intuitiv agierendes Dazuspielen und als kontrastierende Ergänzung etwa zu computergenerierten Klängen.

Jeder
wird seinen Standpunkt vertreten, Musikbeispiele vortragen und erklären - und seine Welt der Wahrnehmung offenlegen. Die Zuhörer werden nach den Einführungen aufgefordert, teilzunehmen, die Wirksamkeit der Musikbeispiele beschreiben und die Idee eines modernen Quadriviums hinterfragen bzw. stärken oder ergänzen.

Boethius, Pythagoras, Platon und Nikomachos (um 1150)
siehe: Barbara Münxelhaus, Pythagoras musicus, Verlag für systematische Musikwissenschaft GmbH,
Bonn-Bad Godesberg 1976, Seite 254 ff.

 
Letzte Änderung: 09.04.2022
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