223. Montagsgespräch im Musiklabor München
Über die Wahrnehmung eines Klanges - hier im Kontext der Synästhesie
Christine Söffing und Dieter Trüstedt
Das Montagsgespräch verläuft auf drei Ebenen:
- Gedanken zur Wahrnehmungsphilosophie im allgemeinen (musikalischen) Hörerlebnis
- Beschreibung der allgemeinen und der individuellen Synästhesie
- Konkrete Experimente vor Ort im Rahmen dieses Montagsgesprächs
1.
Wie hört der Mensch Musik? Im elementarsten Fall wird er von einer
Stimme, vom Klang der Stimme, von der Sprachmelodie und vom Sprachrhythmus
berührt. Nehmen wir inhaltliche Zusammenhänge aus dieser Stimm-Musik
heraus, bleibt der Klang der Stimme, bleibt ein Klangverlauf, bleibt eine
Melodie wie der Schatten des Gesagten im Gedächtnis. An diesen
grundlegenden Elementen erkennen wir eine Stimme sofort wieder - auch
unter Tausenden von Menschen, auch wenn wir den einzelnen Menschen gar
nicht sehen. Es gibt sicher weitere grundlegende Elemente des Hörens, die
dem einzelnen Menschen vertraut werden, vielleicht das Geräusch von
Wellen oder vom Wind, vielleicht ganz speziell z.B. der Wind in Kiefern.
Weiterhin existieren konstituierende Rhythmen, z.B. der Rhythmus des
Herzschlags, des Gehens, des Laufens odes des Atmens. Vielleicht bauen
sich so unsere Wiedererkennungsfelder im Gedächtnis auf und somit unsere
Symphatien oder unser Fremdsein gegenüber Hörerlebnissen, dem
Berührtsein oder Abgestoßensein oder dem Gleichgültigbleiben. Unser
Gefallen oder Verstehen von einfacher oder komplexer Musik hat - neben der
allgemeinen Konditionierung z.B. der klassischen europäischen Musik -
hier ihren Ausgangspunkt.
2.
Wie dieses Erkennen oder Wiedererkennen im Einzelnen in uns deutlich wird,
ist offenbar individuell sehr verschieden. Wenn wir eine Stimme erkennen,
spüren wir den Menschen in unserer Nähe, ohne dass wir ihn tatsächlich
in uns sehen oder ihn uns vorstellen. Wenn wir den Klang einer Geige
hören, sind wir eventuell vom Klang berührt, ohne uns eine Geige oder
den Spieler vorzustellen. Jetzt gibt es Menschen, die bei Klängen
unmittelbar eine Farbe und eine Form sehen, d.h. in sich selbst ein
dreidimensionales Bild sehen. Die Farbe und die Form verändert sich, wenn
der Klang sich verändert, leiser wird oder sich verfärbt. Dieses
unmittelbare Sehen heißt Synästhesie. Verschiedene Synästhetiker sehen
bei gleichen Klängen durchaus verschiedene Bilder. Christine Söffing ist
so ein Mensch. Sie wird uns in den folgenden Experimenten beschreiben, was
sie sieht. Der Reiz in diesen Experimenten ist die andere Art der
Beschreibung: Ein Klang ist jetzt nicht nur laut oder leise, sondern nah
oder fern. Es kann auch sein, dass der Klang auf den Hörer zukommt, wenn
er lauter wird oder der Hörer geht in seiner Wahrnehmung auf den Klang
zu. Diese Erfahrungen werden zum Beispiel in chinesischen Koans
beschrieben bzw. hinterfragt. Wir gewinnen auf diese Weise neue
Beschreibungen von Klangeigenschaften. Auch kann es sein, dass jemand die
einzelnen Töne (einer Tonfolge) heller oder dunkler hört und nicht, wie
die Musiker sagen, höher oder tiefer. Wir lernen Klänge, Töne,
Melodieverläufe, Rhythmen, Klanggestaltungen etc. neu zu formulieren, das
heißt neu zu erkennen. Für die Gestaltung von Musik - sei es
komponierend, improvisierend oder interpretierend - können diese
Beschreibungen wichtig sein.
3.
In unseren Experimenten beginnen wir mit sehr einfachen Klängen und
notieren die Bilder von Christine Söffing. Neben den einfachen
Sinus-Klängen verwenden wir auch Klänge, die aus mehreren Sinusklängen
zusammengesetzt sind. Weiterhin arbeiten wir mit Klängen, die sich
während des (Aus-)Klingens verändern - in ein anderes Obertonspektrum.
Dabei setzen wir natürliche Vorgänge ein - z.B. die höheren Frequenzen
verklingen vor den tieferen - aber auch gegenläufige Vorgänge. Die
"nackten" Sinustöne können durch farbige,
"lebendige" ersetzt werden, z.B. Klänge, die dem weißen
Rauschen entnommen sind. In anderen - eher künstlerisch orientierten -
Experimenten, bauen wir Klänge entsprechend den Farben, Formen und
Raumorientierung eines - in der Synästhesie gesehenen - Objektes. Wird
dieser Klang gespielt, d.h. hier synthetisch wieder eingespielt, sollte
das ursprünglich Gesehene wieder aufscheinen. Auch die Bewegung des
Objektes im Raum können wir in diesen Experimenten nachbilden. Die
Beschreibung von elektronisch hergestellten Klängen mag inzwischen recht
gut gelingen. Schwierig ist die Kategorisierung der vielfältigen
Erscheinungseigenschaften, der in der Synästhesie gesehenen Bilder. Hier
liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit, die als Forschungsprojekt verfolgt
wird.
In unseren Versuchsaufbauten verwenden wir ein sehr genaues und keinen
Einschränkungen oder fremden Vorgaben unterliegendes Computerprogramm
(Pure Data - siehe 222. Montagsgespräch http://www.luise37.de/2006/montag-222/grain.htm).
Das Programm wird nach den jeweiligen Erkenntnissen korrigiert oder neu
geschrieben, um den Fragestellungen möglichst nahe zu sein. Pure Data
zugeordnet ist das Programm GEM: hier kann die Klangformung zum Beispiel
durch das Auslesen von farbigen Bildern erfolgen, um eine mögliche
Konsistenz Klang > Bild > Klang zu entwickeln, siehe
http://gem.iem.at/download.html.
Dieser Prozess ist einem späteren Montagsgespräch vorbehalten.
Weitere Informationen siehe: http://www.luise37.de/2006/montag-223/223.htm
Montag, 3. Juli 2006 - 20:00 Uhr
Eintritt frei oder Spende
Carl Orff Auditorium
München, Luisenstr. 37a
U-Bahn U2 Königsplatz
Musiklabor
Veranstalter:
Echtzeithalle e.V.
in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und
Theater München
Tel. 089 / 289 27 477 oder 089 / 2721856
www.echtzeithalle.de