275. Montagsgespräch
Vorstellung, Wahrnehmung |
Zehntes Montagsgespräch im Rahmen des Projektes MUSIK AUS DEM NIEMANDSLAND in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater München, dem Deutschen Musikrat, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der Echtzeithalle München.
- Video / Installation / Christine Söffing
- Einführung / Christine Söffing
- 5 Musik-Skizzen zu Thymian / Dieter Trüstedt, Christine Söffing,
Klaus Schmidtke
- Impulsvortrag: Mentale Repräsentation von Gerüchen z.B. Thymian
/ Christine Söffing
- Impulsvortrag: Wahrnehmungsinstanzen in der Musik / Dieter Trüstedt
A
Beispiel: Mentale Repräsentation von Gerüchen (1)
Allain Paivio (2) geht von einem System mit zwei Subsystemen aus, dem imaginablen und dem verbalen. Das Verbale behandelt linguistische Informationen. Das imaginable System kodiert räumlich ganzheitliche analoge Abbildungen perzeptueller Sachverhalte. Beide Systeme agieren unabhängig und doch miteinander verbunden.
Edward Tolman (3) brachte 1948 das Konzept kognitiver Landkarten auf, das höhere Organismen von ihrem Lebensraum bilden, um räumliche Probleme zu lösen. Wolfgang Marx (4) nimmt an, dass in solchen subjektiven Repräsentationen nicht nur Informationen über die räumliche Umwelt eingehen, sondern dass zugleich auch Einstellungen, Wissensbestände und persönliche Vorlieben (bzw. Abneigungen) darin integriert werden können.
Nach Endel Tulving (5) muss man, um die Bedeutung der Erfahrung, die mit der Aufnahme von Informationen gemacht wird, zu berücksichtigen, das Gedächtnissystem in zwei verschiedene Systeme - ein episodisches und ein semantisches - unterteilen. Das episodische Gedächtnis ist ein individuelles, autobiografisches System, das die zeitliche und örtliche Information darüber, wann und wo diese Information aufgenommen wurde, beinhaltet. Im semantischen Gedächtnis hingegen sind die zentralen Elemente sprachliche Symbole, Relationen und Konzepte.
"Eine große Rolle beim Zusammenspiel der einzelnen Elemente des episodischen Gedächtnisses spielt die Annahme der Enkodierungs-Spezifität (encoding specificity)". Gemeint ist die Tatsache, dass die Umstände bei der Enkodierung zum Zeitpunkt des Abspeicherns in Kombination mit dem retrieval cue (6) für ein erfolgreiches Wiedererkennen (recognition) oder Wiedererinnern (recall) verantwortlich sind.
B
Die Musik dieser Montags-Art-Lecture wird von 3 Spielern - jeweils mit einem Laptop als Musikinstrument - präsentiert. Die verwendete Schaltung ist mit Pure Data hergestellt, einem aktuellen Computer-Programm aus dem Musikdepartment der Universität San Diego / Californien - Autor: Miller Puckette (7). Die konkrete Schaltung greift auf künstlerische Ideen der 60er und 70er Jahre zurück: die Verwendung von mathematisch-geometrischen Formen für die Klanggestaltung und der Einsatz von "Zeitmaschinen" - aus der Mathematik und der allgemeinen Naturwissenschaft - für die rhythmisch-harmonische Hintergrundsstruktur bzw. Textur. Für den Musikaufbau dienen Texte des Biophysikers Hermann von Helmholtz als Ideen-Vorlage, veröffentlicht in seinem Werk "Tonempfindungen" (8) - herausgegeben 1863. Helmholtz (9) versteht den Begriff "Melodie" als zentrales Strukturelement der Musik. Die "Melodien" werden in der vorgestellten Arbeit "Thymian" in die vom Computer automatisch gespielte "Textur" eingezeichnet.
Der Musik-Titel "Thymian" beschreibt einen weiteren Wahrnehmungsvorgang - den Geruch. Vielleicht konstituiert der Thymian-Geruch das Element "Stimmung" in der Musik, die Atmosphäre, das Semantische. Die episodischen Gestaltungsteile werden hier auf den Tasten des Laptops "live", d.h. nach Partiturskizzen oder künstlerisch spontan, gespielt. Oliver Sacks beschreibt diese Wahrnungs- und -Vorstellungsvorgänge in seinem Buch "Der einarmige Pianist - Über Musik und Gehirn" (10).
In der Musik dieses Montagsgesprächs werden mehrere musikalische "Annäherungsversuche" zur Thematik "Vorstellung und Wahrnehmung" unternommen. Die Klänge "fühlen sich wie der Geruch von Thymian" an oder es wird ein Klang gesucht, der den Geruch von Thymian darstellt, symbolisiert, verkörpert, animiert - als experimentelles Mittel in diesem künstlerisch-wissenschaftlichen Projekt.
Anmerkungen
- Gschwind, Jürgen: Repräsentation von Düften. Bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von Dr. Peter Neumann und Dr. Margret Schleidt mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Lutz von Rosenstiel. Augsburg 1998.
- Allain Paivio. Mental Representations. A Dual Coding Approach. New York 1986.
- Edward Tolman, geb. 1886
- Wolfgang Marx, geb. 1948. Psychologie der Sprache.
- Endel Tulving. Elements of Episodic Memory. The Behavioral and Brain Sciences. 1984. S. 229
- Unter Retrieval Cue (Abrufhinweis) versteht man alles, das einem hilft Zugang zu Informationen aus dem LZG (Langzeitgedächtnis) zu erlangen. Aufgrund von Retrieval Cues erklärt sich, warum es einfacher ist, Informationen wiederzuerkennen als abzurufen.
- Author of Pure Data (Pd), a graphical programming language for the creation of interactive computer music and multimedia works.
- Hermann von Helmholtz, Tonempfindungen, 1863, Originalausgabe als pdf im
Internet, kostenfrei
600 Seiten, vor allem die 3. Abteilung "Verwandschaft der Klänge". - Hermann von Helmholtz, Text in Profile UTB 3034 vom Philosophen Michael Ruoff
LMU München,
2008, 108 Seiten, Preis: 9.90 Euro. - Oliver Sacks, Der einarmige Pianist, Über Musik und das Gehirn,
rowohlt, 8. Auflage 2008, 393 Seiten.
siehe u.a. perlentaucher.de
Kontakt
http://www.synaesthesiewerkstatt.de
http://www.luise37.de/