252. Montagsgespräch
Der amerikanische Komponist CHARLES IVES (1874 - 1954)
Versuch einer Einführung in sein Leben und Werk - Teil
II
Wieland Grommes
1966 schrieb Strawinsky in deutlich eifersüchtiger Bewunderung über Ives:
"Polytonalität, Atonalität, Clusters, Reihen ... perspektivische Wirkungen, Mikrointervalle, Zufall, statistische Komposition, Permutation, rhythmische Dimensionen, die sogar heute [=1966] noch der Avantgarde voraus sind, Spiel-mit-Verfahren, Schabernack und informelle Musik: dies waren die Entdeckungen von Ives, patentiert durch das Schweigen der Musikwelt vor einem halben Jahrhundert. In der Tat: Er machte sich ruhig daran, den zeitgenössischen Kuchen zu verzehren, ehe überhaupt sonst jemand am Tisch Platz genommen hatte."
Sämtliche Experimente und Tendenzen der "Entgrenzung des Darstellbaren"
in der gegenwärtigen Avantgardemusik sind tatsächlich undenkbar ohne
das schier grenzenlos innovative Werk von Charles Ives als Ursprung und Vorbild.
Von seinen kühnen Kindheitskompositionen bis zum Hauptwerk der reifen Jahre
experimentierte er bereits mit allen Kompositionsmethoden, die erst Jahrzehnte
später von der "2. Wiener Schule" durch Schönberg, Berg
und Webern als Entdeckungen gefeiert wurden und nahm selbst jene radikalen Experimente
voraus, die seit John Cage ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts immer
weitere musikalische Ausdrucksgebiete erschließen.
Um sein Komponieren von sämtlichen Zwängen frei zu halten und aus
Verachtung gegenüber Repertoire und Ritualen des bürgerlichen Musikbetriebs
macht er nicht die Musik zu seinem Broterwerb, sondern gründet und leitet
mit radikal-demokratischem Engagement eine Lebensversicherungsgesellschaft,
die bald zu einer der 4 reichsten und größten der USA wird und ihm
selbst ein gewaltiges Vermögen sichert (womit er ganze Orchester, Musikzeitschriften,
die Arbeit des Dirigenten Slonimsky, von Kollegen wie Cowell und Ruggles sowie
die Edition und Aufführung seiner eigenen Werke finanziert).
Seine Maxime: "Warum sollen Frau und Kinder darben, wenn jemand Dissonanzen
liebt". Lange Jahre komponiert er völlig fern von jeder Öffentlichkeit
"abends, am Wochenende, im Urlaub". Zu Lebzeiten meist als "Amateur",
"Spinner" oder "unspielbar" verspottet, erst spät und
zögernd "entdeckt", gilt Charles Ives heute bald als "größter
amerikanischer Komponist", bald als kreativster Geist der Musikgeschichte
überhaupt.
Literatur, Bildnachweis:www.charlesives.org/
Wieland Grommes
geb. 1953, hauptberuflich freier literarischer Übersetzer, daneben
Maler und Autor sowie jahrelang Dramaturg in der französischen Theatergruppe
"Groupe 33", Bordeaux.
Montag 18. Juni 2007 20 Uhr
Eintritt frei oder Spende
Seminarraum TU-Mensa, 2. Stock, Arcisstr. 17 Eingang Gabelsbergerstraße
U-Bahn U2 Königsplatz
Musiklabor
Veranstalter: Echtzeithalle e.V. in Zusammenarbeit mit
der
Hochschule für Musik und Theater München
Tel. 089 / 289 27 477 oder
/ 272 1856
www.echtzeithalle.de
