184. Montagsgespräch im Musiklabor München
Chaos- und Normal-Klavier
Dieter Trüstedt und Hans Wolf
Innentangente
Ursula Ritter und Dieter Trüstedt
Chaos-Klavier - Dieter Trüstedt, Forschung am Phänomen Klang und Licht
Es gibt eine sehr einfache Formel, eine Rekursionsformel aus der Naturwissenschaft, die ein Zahlenmuster liefert, das in sich konsistent ist, sich aber nicht wiederholt: x => k*x*(1-x). Diese Formel erzeugt das bekannte Feigenbaum-Diagramm, ein Pendeln, das eine endgültige Stabilität ausschließt. Es ist ein Hin- und Herspringen von Werten, eine plötzliche Annäherung an ein Lösung, die vehement wieder aufgegeben wird, eine scheinbare Gleichförmigkeit, die unvermittelt wieder gebrochen wird. Die Konstante k ist auf 3,7495 gesetzt, d.h. das Spiel ist mitten im chaotischen Bereich der Formel.
Der Kammerton a1 (zur Zeit ca. 443 Hz) wird diesen scheinbar oder tatsächlich chaotischen Zahlenwerten unterworfen: wir multiplizieren die Frequenz mit den jeweils neuberechneten x-Werten. Dadurch wird das a in einem Tonfeld von circa einer Oktave variiert. Jeder Anschlag erzeugt eine neue Tonhöhe, eine Tonhöhe, die es auf dem Flügel nicht gibt. Um die Spannweite zu öffnen setzen wir in der vorliegenden Musik alle acht a-Töne des Flügels (vom Subcontra A bis zum viergestrichenen a) ein, eingespielt von Hans Wolf am Flügel des Carl Orff Auditoriums. Die Tonhöhenfelder der acht a-Töne berühren sich an ihren Rändern ohne sich zu überlappen.
Mit einem Controller-Keyboard wird das Computer-Programm Pure Data gesteuert: es gibt für jedes der 8 a-Werte eine eigene weiße Taste, die beim Anschlagen das jeweilige a neu berechnet und in Echtzeit in der hohen Qualität des eingespielten Flügelklanges wiedergibt. Dieses Spiel steht im Stück Chaos- und Normalklavier in Kontrast zum Spiel auf dem realen Flügel. Wir, Hans Wolf und Dieter Trüstedt, haben 10 Etüden entworfen, die in einer improvisativen Art gespielt werden.
Klavier-Improvisation - Hans Wolf, Pianist und Komponist
Die Klaviermusik steht in starkem Kontrast zur Computermusik des
Chaos-Klaviers:
das Klavier ist streng temperiert gestimmt, mit 7 mal 12 plus 4
Tonwerten, sehr lebendig in der Anschlagdynamik und mit der Möglichkeit,
den Ton jederzeit zu stoppen; Hans Wolf erweitert seine Musik durch das
experimentelle Spiel im Klavier-Innenraum;
das Chaos-Klavier, vollkommen frei in den Tonhöhen (kein Tonwert
wird sich wiederholen), die temperierten Tonhöhen kommen grundsätzlich
nicht vor, der Klang dem (echten) Klavier, dem Flügel, täuschend
ähnlich, auch relativ lebendig in der Anschlagdynamik, ebenfalls mit
Tasten gespielt. Nur durch die andere akustische Räumlichkeit und durch
die optische Wahrnehmung kann das Spiel Flügels vom Spiel des
Chaos-Klaviers vom Zuhörer getrennt werden - und natürlich durch die
Temperierung.
Das Stück, die Etüden-Reihung, hat diese Verwechslung zum Thema. Die
jeweils andere, dem jeweiligen Instrument eigene Spielart ist die
künstlerische Aufgabe für die beiden Spieler.
Bewegung - Ursula Ritter, Tanz und Performance, Ulm
Das zweite Stück die INNENTANGENTE ist eine Performance für Tanz, Bild und Musik. Hier besteht die Chaos-Klavier-Musik aus sehr kurzen Clustern und Miniaturen. Sie bilden Zeitfenster mit 12-Sekunden-Öffnungen, in denen die Klänge der Anschläge weit ausschwingen können.
Bewegungs-Assoziationen zum Thema der Tangente:
sie ist die Berührende, die aus der Unendlichkeit kommt, dorthin wieder
verschwindet, wiederkehrt, verschwindet. Das Körperdenken oszilliert in
Wahrnehmungen verschiedener Sinnensysteme, bewegt sich in Raumzeit, und
nimmt Bezug auf zum Klang und zum Bild. Die minimalistischen, in seltsam
aufgehobenen Harmonien schwebenden Klänge der Musik, die Nacktheit und
Leere in den Zeitfenstern, fordern vom Tanz Präzision in der Bewegung und
Sorgfalt in der Intention.
Ursula Ritter, Probenfoto, Innentangente, März 2005, Carl Orff
Auditorium München,
im Hintergrund Ausschnitt aus der Projektion einer inversen Abbildung.
Inverse Abbildungen - Henrik Kühn, Informatikstudent, Universität Ulm
Die Inversion ist ein Abbildungsverfahren, in dem alles, was außen ist, innerhalb eines Kreises abgebildet wird. Die Formel ist einfach: r => 1/r, d.h.: jeder Ortsvektor wird reziprok gesetzt, die Unendlichkeit wird zum Mittelpunkt des Kreises. Das selbstentwickelte Programm geht von einem frei entworfenen "Muster" aus, zum Beispiel einem Schachbrett. Im Stück INNENTANGTE besteht die Grafik aus einer Kreis- und einer Balkenfläche, die sich bis ins Unendliche wiederholt oder es wird außerhalb des Computer-Bildschirms" die umgebende Welt in eine einheitliche Farbe getaucht. Jeder frei gezogene Kreis auf dem Bildschirm wird in diesem Verfahren zum neuen Abbildungskreis. Die Abbildungen werden naturgemaß selbstähnlich. Die Farben der Grafik können nach jeder Abbildung neu gesetzt werden. Hier sind die Farben konstant und sehr stark gesetzt: Pupur, grün und blau.
Die inversen Abbildungen sind abgespeichert und dienen als Basismaterial für einen Flash-Film. Im Projekt INNENTANGENTE sind es nur wenige Bilder, die - mit einem grauen Film-Hintergrund gemischt - ineinander überblendet werden. Der Tanz bleibt innerhalb des Projektionsbereichs. Die Wirkungen der Bewegungs-Figuren des Tanzes wechseln zwischen sehr räumlich und sehr bildähnlich - wie in ein Tafelbild eingefügt.
Diskussion mit dem Publikum und Studienreihe
Die von der Echtzeithalle organisierten Montagsgespräche beziehen mehr und mehr konkrete Aufführungen ein, die live und vor Ort das Thema eröffnen. Das Publikum kann mit den Spielern und den Autoren direkt diskutieren. Die Stücke haben - so wie die Vorträge - Impuls-Charakter, d.h. sie berichten unmittelbar von einer neuen künstlerischen Idee. Die Mitschnitte werden - einschließlich wichtiger Diskussionsbeiträge - als CD bzw. DVD für eine Studienreihe herausgegeben
Montag, 21. März 2005 - 20:00 Uhr
Eintritt frei
Carl Orff Auditorium
München, Luisenstr. 37a
U-Bahn U2 Königsplatz
Musiklabor
Veranstalter:
Echtzeithalle e.V.
in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und
Theater München
Tel. 089 / 289 27 477 oder 089 / 2721856
www.echtzeithalle.de