170. Montagsgespräch im Musiklabor München
Computer aided Memory
Walter Siegfried
Erinnerungen sind Gespinste. Netzwerke, gewoben aus den Spuren, die Erlebtes, Gedachtes, Gehörtes, Gesehenes oder Gefühltes im Kopf zurücklassen. Spürt man den Fäden dieses Netzes nach, wird man feststellen, dass es ausgetretene Pfade der Erinnerung gibt, aber auch überraschende Verbindungen, Schleichwege, die sich plötzlich im Dickicht auftun. Manchmal sind diese Verknüpfungen rational nachvollziehbar, sehr viel häufiger aber eher assoziativ, scheinbar willkürlich. Warum muß ich beim Namen dieser Stadt immer sofort an Fisch denken? Ich habe dort einmal eine sehr gute Dorade gegessen, ja, aber auch viele Gespräche geführt, Menschen getroffen, Bilder gesehen. Warum ist es gerade die Dorade, die sich den Platz im Zentralknoten der Erinnerungsfäden rund um jene Stadt erschwommen hat? Warum hingegen der Gedanke an eine andere Stadt sofort die emotional heftig besetzte Erinnerung an eine ganz bestimmte Frau heraufbeschwört, leuchtet sofort ein.
Walter Siegfried hat einen Teil des Netzwerkes in seinem Kopf transponiert in ein Medium, das geradezu gemacht dafür erscheint, die Verknüpfungen der Erinnerung abzubilden: in die Hypertext-Struktur seines Laptops. Durch dieses Computer Aided Memory kann man sich durchklicken: Von Fotos und Zeichnungen zu Texten, und, da Walter Siegfried Sänger ist, natürlich häufig zu Musik, die entweder vom Thema her mit einem anderen Erinnerungs-Bild verknüpft ist (vom Bach ist es nur ein kurzer Weg über die Forelle hin zu Schubert), oder aber an Auftritte Siegfrieds an bestimmten Orten erinnert. Beim Erforschen dieser Struktur merkt man bald, dass manche Inhalte sehr viele Links zu anderen aufweisen, andere wiederum selbst überdurchschnittlich häufig Ziel von Links aus anderen Seiten heraus sind, und dann gibt es auch Erinnerungs-Stücke, die nur an einer einzigen anderen hängen, gewissermaßen als Sackgasse des Gedächtnisses, aus der man nur wieder herauskommt, wenn man den gleichen Weg zurückgeht, den man gekommen war. Und natürlich gibt es unzählige verschiedene Wege, auf denen man sich durch dieses Erinnerungsnetzwerk klicken kann, obwohl es nur einen kleinen, sehr kleinen Ausschnitt der Erinnerungen abbildet, die ein reales Hirn im Lauf eines Lebens anspeichert.
Doch all diese Bilder, Texte und Musikstücke brauchen noch etwas, um zum Leben zu erwachen: die Geschichte, die hinter ihnen steht. Ohne diese Geschichte oder Geschichten blieben sie nur ein Hyper-Fotoalbum eines Menschen, den wir nicht kennen, und dessen Begegnungen, Reisen und Familienfeste, geronnen in Fotografien, uns letztlich kalt lassen. Erst wenn dieser Mensch die Geschichten hinter den Bildern zu erzählen beginnt, werden die Fotos zum Film, erwachen zum Leben, wecken unser Interesse.
CAM im Rahmen des Performance-Festes, Juni 2004 Ingolstadt
Walter Siegfried stellt sich mit seinem Computer Aided Memory auf die Bühne und erzählt diese Geschichte(n) live. Die Regie übergibt er dabei dem Publikum: in genau festgelegtem zeitlichem Takt bekommen einige Zuschauer die Macht über die Maus und dürfen ganz nach Belieben durch das Erinnerungsnetz klicken. Walter Siegfried reagiert auf die so entstehende Dramaturgie mit seinen Geschichten und Liedern. Manchmal muß er früh abbrechen und schnelle Übergänge finden, weil der am Laptop sitzende Besucher mit nervösem Zeigefinger durch die Erinnerungswelten hetzt. Ein andermal dagegen singt er ein Lied zweimal, spinnt den Faden einer Geschichte immer weiter, weil der für die Maus Verantwortliche so fasziniert zuschaut und zuhört, dass er das Klicken ganz vergisst.
Wenn man Walter Siegfrieds Performance Computer Aided Memory mehrmals besucht, wird man immer ganz unterschiedliche Geschichten erleben, die alle die gleichen Versatzstücke, dieselben Erinnerungsinhalte benutzen, sie aber immer anders komponieren, unterschiedliche Dramaturgien und Höhepunkte setzen: Endet die Geschichte einmal in einer versöhnlichen Landpartie, steigert sie sich ein anderes Mal zu einem wahren Totentanz. Es wird einem bewußt, wie viele unterschiedlichen Geschichten in einem Menschenleben und seinen Erinnerungen stecken, wie viele rote Fäden wir durch das Gewebe unseres Gedächtnisses legen können: Unser Leben ist nicht nur eine Geschichte, sondern ein Netzwerk von ganz unterschiedlichen Erzählungen: fröhlichen, traurigen, banalen, dramatischen.
Dr. Michael Müller, München
Montag, 8. November 2004 - 20:00 Uhr Eintritt frei Carl Orff Auditorium | Musiklabor Veranstalter: |