172. Montagsgespräch im Musiklabor München
Composer Gloria Coates
... who also paints:
Two creative strokes, or one?
Gloria Coates berichtet im 172. Montagsgespräch von ihrer Musik, ihren Kompositionen und von ihren bildnerischen Arbeiten. Sie sieht sich selbst in erster Linie als Komponistin und dann als Malerin, obwohl sie auch Malerei studiert hat und in vielen Ausstellungen vertreten war. Im folgenden der Text von Detlef Gojowy in der CD "Gloria Coates: Symphony No2, Anima della Terra, Time Frozen, Homage to Van Gogh", weil dieser Text Musik und Bild bzw. Bild und Musik eng verknüpft. (Dieter Trüstedt)
Gloria Coates
Als Schülerin des Komponisten Otto Luening (1900-1996) ist Gloria Coates (*1938) gewissermaßen Enkelschülerin von Ferruccio Busoni (1866-1924), der als Wegbereiter und Inspirator der verschiedensten Richtungen und Ausdrucksformen der Musik im 20. Jahrhundert die Forderung aufstellte, daß in der Tonkunst "jeder Fall ein neuer Fall, eine "Ausnahme" sein sollte. Daß in ihr jedes Problem, einmal gelöst keine wiederholten Lösungsversuche erführe." Gloria Coates, in deren Arbeiten die verschiedensten Satzmodelle und Lösungen verfolgt wurden, einer "Schule" oder "Richtung" der neuen Musik zuordnen zu wollen, wäre ein vergebliches Bemühen. Als Schülerin von Alexander Tscherepnin (1899-1977) partizipiert sie zudem an Traditionen, die außerhalb des mitteleuropäischen Musikkanons, weiter östlich liegen: die der freien Skalenbildungen, die in Tscherepnins Lebenswerk zum bewußten Experimentierfeld wurden, auf der Basis der in Rußland und Osteuropa weiterwirkenden Traditionen byzantinischer Einstimmigkeit und daraus resultierender Vielfalt an Tonartenbildungen abseits von Dur und Moll, die auch Busoni in seinem "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" systematisch beschäftigten. Skalen nicht als vorgegeben zu betrachten, sondern als Gegenstand grundsätzlich neuer Entwürfe, ist dem kompositorischen Denken von Gloria Coates wesenseigen. Und es müssen nicht Skalen sein - in Frage steht das kompositorische Baumaterial schlechthin, das sich ihr als unbeschränkt formbar darstellt.
In Anknüpfung an Wassily Kandinskys bildnerische Elementarlehre (die ihren Ansatz wiederum einem neidvollen Seitenblick auf Arnold Schönbergs Harmonielehre verdankt) haben Multimediakünstler wie Dieter Schönbach Überlegungen über eine analoge neue Systematik des klingenden Materials und seine Einteilung in Klangflächen, Klangkurven, Klangpunkte und Klanglinien erwogen, die einer überholten Systematik nach Tönen und Intervallen eine umfassendere Neuordnung entgegensetze. Bei Gloria Coates, deren Beziehungen zur bildenden Kunst gleichfalls stark ausgeprägt sind (als Malerin fand sie mit abstrakten und informellen Arbeiten Beachtung), gibt es Klangflächen, Klangkurven, Klanglinien und Klangpunkte neben ganz herkömmlichen Melodiebildungen, deren lapidare Diatonik dann wiederum einen archaischen Zug ins avantgardistische Gesamtbild trägt.
Cloria Coates, The Balance of Nature, 1985
Es können Klangkurven von kurzer Phase sein, etwa: ein Quintintervall in den Streichern glissiert zwischen Hoch und Tief, zunächst über eine Sekundstrecke, dann über einen sich ständig vergrößernden Intervallraum bis hin zur Oktave. Und dies wird in dramatischer Spannung über einen längeren Zeitraum aufgebaut und ausgekostet. Klanglinien von Hoch nach Tief oder umgekehrt oder auch: beides ineinander in kontrapunktischer Gegenbewegung verknüpft, müssen natürlich nicht dem Intervallraster der Ganz- und Halbtöne, nicht einmal der Viertel- und Dritteltöne folgen, sondern werden ganz kontinuierlich das hörbare Spektrum durchmessen - und sind dabei doch Baumaterial, wie es in herkömmlicher Musik die Töne bilden - aber Töne gibt es, wie gesagt, dann auch. Jedoch gleichfalls eine Windmaschine, wie hier im Leonardo-Fragment und in anderen ihrer Werke, z. B. "The Force for Peace and War."
Ton und Geräusch als gleichwertige Elemente zu behandeln, war eine unter anderen Musikideen der Futuristen, die einen Satztyp hervorbrachten, in der die herkömmliche Hierarchie von Thema und Motiv auf den Kopf gestellt und abgelöst wurde von der Dominanz und formbildenden Rolle des nichtthematischen Materials. Impulse und Bewegungen in mechanischer Schichtung, daraus resultierend die Dichte oder Dünne des Satzes, die Abwechslung und Ablösung der Klangfarben - solche Parameter bestimmen die Form eines Orchesterwerkes wie der "Eisengießerei" von Alexander Mossolow (1928), wogegen ein bißchen Thema in den Hörnern eher zur Randerscheinung wird, zu einer rituellen Konzession an eine bisherige Konvention.
Es scheint, als habe Gloria Coates über ihren russischen Lehrer Tscherepnin Anteil an diesen russischen Aufbrüchen, aber auch das Vorbild ihres amerikanischen Landsmannes Edgard Varese (Amériques, Ionisation) wäre in solchen Zusammenhängen greifbar. Die russischen Neutöner der 20er Jahre entdeckten die Skala, die über alle Melodiekonventionen ausgeuferte Leiter als melodisches Ereignis, und nicht mehr die Dissonanz und ihre Auflösung, sondern das spannungsreiche Gegeneinander und Übereinander von musikalischen Schichten wurde zum dramatischen Ereignis beim jungen Schostakowitsch und seinen Generationsgenossen. Ähnlich hält es Gloria Coates in ihrer 2. Sinfonie, einem Auftragswerk von "New Music America" New York 1989: Was die hohen Streicher treiben, interessiert die Baßregion mit ihren Pauken scheinbar wenig; zu den Linien der Melodie tritt die selbständige "Fläche" als Ereignis, und dies miteinander bildet einen spannungsreichen Werkzusammenhang, der dann wiederum ein harmonischer Zusammenhang ist: ein komplizierter, zu entschlüsselnder; es gibt auch die harmonische Spannung zwischen Flächen. Und bei alledem sind noch nicht einmal die Ereignisse bedacht, die es mit dem Phänomen der Klangfarbe zu tun haben: eine Klangfläche kann innerlich oszillieren und ihre Farbgestalt wandeln.
Farbe und Form im wörtlichen und im musikalischen Sinn greifen ineinander bei Gloria Coates' "Hommage an Van Gogh" (1993-94), einem Auftragswerk von Deutschland Radio Berlin und MDR Kultur Leipzig; der Auftrag lautete: Musik über ein Gemälde der Dresdner Galerie. Gloria Coates wählte daraus van Goghs "Quittenstilleben", denn dies war "nicht wirklich ein Stilleben, denn alle Objekte waren in Bewegung. Das Gemälde entstand im letzten Lebensjahr Van Goghs..., ich fühlte etwas von seinen eigenen Ängsten und Enttäuschungen... und die Quitten rollten abwärts..., eine war bereits im Fallen ... Die Form, die ich wählte, entsprach dem Gang meines Blicks über die Leinwand von links oben nach rechts unten mit der fallenden Frucht. Die Pinselstriche waren wie meine eigenen Glissandi... wohl in einem anderen Medium, aber musikalische Formen bildend, als wären es Formen auf seiner Leinwand."
Mit all solchen Aufbrüchen in klangliches Neuland und seine multimedialen Grenzgebiete geht in Gloria Coates' musikalischem Denken ein Sinn für strenge Formen in ihrer strengsten Tradition von Kontrapunkt und Kanon dennoch ohne Bruch einher. In einem Riesenkanon war das Material aufbereitet in ihren "Planeten", mit denen sie 1975 in Hannover ihren kompositorischen Durchbruch erzielte und an die sie nach eigener Erklärung in ihrer 2. Sinfonie anknüpft. In "Time frozen", einem Werk, das, 1988/94 entstanden, dem 25. Jubiläum des Ensembles "das neue werk" Hamburg unter Dieter Cichewiecz gewidmet ist, kann man eine besonders hartnäckige Form solchen Kontrapunkts beobachten: Ein mehrstimmiger Kanon wird mit kleinen heterophonen Verschiebungen durchgeführt, schließlich auch in Engführung, was immerfort und lediglich infolge der Unerbittlichkeit des Verfahrens Dissonanzreibungen entstehen läßt.
Werkideen begleiten Gloria Coates' Arbeit oft über Jahre. Ein solches Langzeitprojekt, gewissermaßen ein Lebenswerk-Entwurf, ist ihr Oratorienprojekt "Leonardo" zu Ehren des italienischen Künstlers und Visionärs Leonardo da Vinci. Daraus ist es hier das Stück "Anima della Terra" nach Leonardos Skizzenbüchern, entstanden 1972-1976, dem der folgende Text Leonardos zugrundeliegt:
"Nichts entsteht an einem Ort, wo es kein fühlendes, wachsendes und vernunftbegabtes Leben gibt. Federn wachsen auf den Vögeln und wechseln Jahr für Jahr, Haare wachsen auf Tieren und werden jedes Jahr erneuert, außer an einigen Stellen wie den Barthaaren von Löwen, Katzen und dergleichen; das Gras wächst auf dem Feld und die Blätter auf den Bäumen, und jedes Jahr erneuern sie sich großteils. So können wir sagen, daß die Erde eine vegetative Seele habe."
In Gloria Coates' Komposition soll der Text nicht verständlich deklamiert werden: vielmehr sind die Vokale aus Leonardos italienischem Text als Auslöser für die benutzten Töne gewählt. Dagegen standen Oktavlage, Rhythmen, Klangfarben und manchmal auch tonale Elemente der Vokallinien in der Entscheidung der Komponistin. Der Vokalpart könnte auch von Blas- oder Streichinstrumenten gespielt werden, und der Text kann im Altitalienisch des Leonardo gesungen werden. Dabei benutzte sie diese Vokallinien in verschiedenen polyphonen und harmonischen Versionen bei der Instrumentation des allgemeinen Satzes. Eben die orchestrale Form hat mehrere Funktionen: einerseits illustriert sie den Text, andererseits ist sie als reine Form gedacht. Der vorliegende Satz ist nur einer unter vielen auf Leonardos Texte in einem noch unvollendeten Werkzusammenhang.
1998 Detlef Gojowy
Montag, 22. November 2004 - 20:00 Uhr
Eintritt frei
Carl Orff Auditorium
München, Luisenstr. 37a
U-Bahn U2 Königsplatz
Musiklabor
Veranstalter:
Echtzeithalle e.V.
in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und
Theater München
Tel. 089 / 289 27 477 oder 089 / 2721856
www.echtzeithalle.de